© Simon Blöchel, Goetterdaemmerung, Wuerzburg

Hauptwerke

Übersicht über die Hauptwerke von Richard Wagner, welche regelmäßig bei den Bayreuther Festspielen aufgeführt werden.
Der Ring des Nibelungen
Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend - Das Werk, die Wirkung

Mythos und Aktualität

von Torsten Meiwald

Die Entstehung von Richard Wagners in Umfang und Anspruch gleichermaßen monumentalem Hauptwerk Der Ring des Nibelungen erstreckte sich über mehr als ein Vierteljahrhundert. Es ist kein geringes Wunder, dass der Dreiundsechzigjährige, nach zahllosen persönlichen, künstlerischen und politischen Katastrophen, 1876 in Bayreuth schließlich doch noch zur Uraufführung bringen konnte, was der Fünfunddreißigjährige, als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister, 1848 in Dresden begonnen hatte. Dabei hatte sich das ursprünglich als Einzelstück Siegfrieds Tod geplante Projekt, durch die Darstellung der Jugendtaten des Helden im Jungen Siegfried zunächst zum Doppeldrama erweitert, mit der Ausgestaltung der Ereignisse vor Siegfrieds Geburt schließlich zum vierteiligen Zyklus mit dem „Vorabend“ Das Rheingold und den drei „Tagen“ Die Walküre, Siegfried und Götterdämmerung ausgewachsen. Die musikalische Ausarbeitung des von Wagner selbst als „Bühnenfestspiel“ bezeichneten Werkes folgte dann jedoch dem Gang des Dramas, vom Rheingold bis zur Götterdämmerung.
 
Die Macht und die Liebe - "Das Rheingold"
Das große Thema im Ring des Nibelungen ist der ewige Widerstreit von Macht und Liebe, wobei die Macht untrennbar mit dem Besitz und die Liebe sowohl mit der Natur als auch mit der Idee der Freiheit untrennbar verbunden ist. Der Zwerg Alberich, ein Schwarzalbe, und der Gott Wotan, Herr der Lichtalben, ringen um die Weltherrschaft. Beide sind bereit, dafür Liebe zu opfern und die Natur zu versehren. Wotan hat sich, um den Preis eines Auges, aus einem Ast der Weltesche einen Speer geschnitten, der seine auf Verträgen beruhende Herrschaft repräsentiert, und Loge, das Feuer, in seinen Dienst gezwungen. Im Rheingold erleben wir, wie Alberich, durch die Zurückweisung der Rheintöchter in seinem Liebesverlangen frustriert, die Liebe verflucht und sich aus dem der Natur entrissenen Rheingold einen Ring der Macht schmiedet, mit dem er zunächst sein eigenes Volk, die Nibelungen, versklavt und zur Ausbeutung der Schätze der Erde zwingt. Mit Loges Hilfe gewinnt Wotan Alberich den Ring ab, woraufhin der Zwerg das Kleinod verflucht: Es soll jedem Besitzer Furcht und schließlich den Tod zuziehen. Wotan muss den Ring an die Riesen Fasolt und Fafner abgeben, die ihm eine Burg gebaut haben; Fafner erschlägt Fasolt um den Ring allein zu besitzen und erweist damit die Macht des Fluches.
 
Ausbruch aus der Logik der Macht - "Die Walküre"
Sowohl Alberich als auch Wotan wollen den Ring wieder in die Hand bekommen, und zu diesem Zweck zeugen sie Nachkommen, die an ihrer Stelle handeln und den Ring für sie gewinnen sollen. Wotan zeugt mit einer Menschenfrau das Heldengeschlecht der Wälsungen, und mit anderen Frauen neun Töchter, die Walküren. Unter diesen ist Brünnhilde, die Tochter Wotans und der Urmutter Erda. Als Wotan im Verlauf der Walküre erkennen muss, dass sein Sohn, der Wälsung Siegmund, nicht frei genug für eine selbständige, entscheidende Tat ist, befiehlt er Brünnhilde, für Siegmunds Tod zu sorgen. Brünnhilde bricht jedoch aus der Logik der Macht aus: Überwältigt von Mitleid und Liebe zu Siegmund, will sie den Wälsung beschützen. Wotan erzwingt zwar Siegmunds Tod, doch bevor er Brünnhilde zur Strafe für ihren Ungehorsam in einen Zauberschlaf versetzt, gelingt es der Tochter durch die überwältigende Kraft ihrer Liebe, den Vater von seiner Machtgier zu erlösen – Wotan entschließt sich, seine Herrschaft auf- und Freiheit und Liebe wieder Raum zu geben.
 
Der Held und sein Schwert - "Siegfried"
Frei ist vor allem einer: der Titelheld des Siegfried, ein Wälsung, den Siegmund kurz vor seinem Tod mit seiner Zwillingsschwester Sieglinde gezeugt hatte. Anders als Siegmund ist Siegfried wirklich frei, kein bloßes Werkzeug der Götter. Siegmunds Schwert Nothung, das an Wotans Speer zersprungen war, wird von Siegfried neu geschmiedet. Mit dieser Waffe tötet er Fafner und seinen eigenen Ziehvater Mime, Alberichs Bruder, der den Jüngling benutzen wollte, um selbst den Ring zu erlangen. Mit dem Ring und geführt von der Stimme der Natur macht Siegfried sich auf zu Brünnhildes Felsen. Er erweckt Brünnhilde und gewinnt ihre Liebe, nachdem er zuvor den Speer seines Großvaters Wotan zerschlagen hat: Die Macht der Verträge und Gesetze vermag nichts mehr gegen das Schwert des freien Helden.
 
Das Ende eines Zeitalters - "Götterdämmerung"
Wotans endgültigen Untergang erleben wir in der Götterdämmerung. Als Siegfried zu neuen Taten in die Welt zieht, begegnet er schließlich Hagen, dem Sohn Alberichs. Durch List und einen Zaubertrank gelingt es Hagen, Siegfried und Brünnhilde zu entzweien und den Helden schließlich zu ermorden; doch den Ring gewinnt er nicht: Brünnhilde gibt ihn den Rheintöchtern und damit der Natur zurück, bevor sie sich mit Siegfrieds Leichnam verbrennt. Gleichzeitig verzehrt Loge, das Feuer, auch die Burg der Götter mit allen ihren Bewohnern – ihre Zeit ist zu Ende. Die Natur besteht jedoch weiter, und mit ihr die Menschen. Was die Zukunft bringen wird, bleibt offen.
 
Die Dichtung und ihre Quellen
Im Ring des Nibelungen verknüpfte Wagner die Nibelungensage, die bedeutendste germanische Heldensage, mit den Göttersagen der heidnisch-germanischen Mythologie. Der Text zeugt von einer intensiven und enorm fruchtbaren Auseinandersetzung mit der komplexen Überlieferung, deren Motive und Zusammenhänge Wagner in vielfältiger Weise und bis ins Detail verarbeitete, während er sich gleichzeitig völlige innere Freiheit gegenüber seinem Material bewahrte. Ausgangspunkt seiner Arbeit war die skandinavische Überlieferung in der Liederedda, der Snorra Edda und der Völsunga Saga; das süddeutsche Nibelungenlied und die auf die norddeutsche Tradition zurückgehende Thidrekssaga traten ergänzend hinzu. Wagner nutzte auch die zeitgenössische Sekundärliteratur, vor allem Jacob Grimms Deutsche Mythologie. Das Ergebnis war eine ganz eigenständige, gleichwohl in jedem Moment vollkommene Vertrautheit mit der Tradition bezeugende Dichtung, in der sich Archaisches und Modernes in höchst origineller Weise verschränken.
 
Mythos und Realität
Der Schauplatz in mythischer Urzeit bedeutet keineswegs eine Flucht vor der Realität – im Gegenteil. Der Mythos mit seinen überzeitlich gültigen Mustern ermöglicht es, drängenden Problemen der Gegenwart auf den Grund zu gehen: dem Spannungsverhältnis von Verantwortung und Freiheit; der Rolle der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft; der Ausbeutung der Natur und der Entfremdung der Arbeit im Zeichen der Industrialisierung; dem Aufbegehren der Jungen gegen traditionelle Systeme und Lebensentwürfe. In den Göttern, Zwergen und Riesen der Ring-Welt erkennen wir uns selbst. Diese Auseinandersetzung mit der Welt ist schon in Wagners erstem Entwurf, dem Nibelungenmythus, in allen wichtigen Punkten angelegt, jedoch mit einem großen Unterschied: Der Königlich Sächsische Kapellmeister von 1848 machte sich noch romantische Illusionen über die Monarchie und wollte sein Werk mit einer triumphalen Wiederherstellung der Macht der Götter beschließen – der ins Exil gezwungene Teilnehmer der gescheiterten Mai-Revolution von 1849 gestaltet ihren Untergang, die Götterdämmerung.
 
Beredte Musik - die Partitur als Organismus
In die Ring-Zeit fallen Wagners große theoretische Schriften Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft und Oper und Drama. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Ring des Nibelungen von allen Werken Wagners den in diesen Schriften entwickelten Prinzipien am klarsten entspricht. Die flexiblen, metrisch freien Stabreimverse ermöglichen eine ganz aus dem natürlichen Sprachrhythmus entwickelte Gesangsmelodie und die Trennung von Rezitativ und Arie ist weitgehend aufgehoben (selbst wenn die traditionelle Gestalt der »Scena ed aria« – auf neue und sehr flexible Weise gehandhabt – an den Höhe- und Wendepunkten der Handlung immer wieder durchscheint). An die Stelle des Duetts oder Ensembles tritt der Dialog, und statt von traditionellen Formen wird die Musik von den so genannten Leitmotiven strukturiert, die, von wenigen einfachen Naturmotiven ausgehend, in kunstvoller Weise auseinander entwickelt und in immer neuen Varianten miteinander kombiniert und verflochten werden, so dass sich ein dichtes Netz von Bezügen über alle vier Abende erstreckt und das szenische Geschehen in jedem Moment unterstützt, ergänzt, reflektiert, kommentiert oder auch relativiert. Dieses Verfahren geht weit über die frühere Verwendung von Erinnerungsmotiven in der Romantischen Oper (auch in Holländer, Tannhäuser und Lohengrin) hinaus und macht die Musik in zuvor ungeahnter Weise beredt. Dabei verhindert es keineswegs, dass sie sich immer wieder zu lyrischen oder dramatischen Höhepunkten verdichtet, wie in Siegmunds Liebeslied („Winterstürme wichen dem Wonnemond“) oder dem berühmt-berüchtigten „Walkürenritt“. Die Leitmotive sind durchweg überaus plastisch und vereinen prägnante, auch in der Variation erkennbare Struktur mit einem hohen Maß an Formbarkeit; sie fügen sich der nuancierten Anspielung genauso wie der plakativen großen Geste. Vor allem aber können sie sich immer wieder neu und scheinbar unwillkürlich miteinander verbinden, so dass die Partituren der vier Ring-Dramen nicht etwa als mühsam zusammengesetzte Leitmotiv-Mosaike erscheinen, sondern als lebendige, beinahe naturwüchsige Organismen.
 
Der "Ring" und kein Ende
Seit seiner Uraufführung bei den ersten Bayreuther Festspielen im Jahr 1876 hat Der Ring des Nibelungen in immer neuen Aufführungen die Welt erobert, obwohl er an die ausführenden Künstler (und auch an das Publikum!) geradezu ungeheuerliche Anforderungen stellt. Er hat Regisseure und Kritiker zu immer neuen Auseinandersetzungen herausgefordert, hat begeisterte Zustimmung und erbitterte Ablehnung erfahren und so viele unterschiedliche Analysen und Deutungen provoziert wie kein anderes Werk des Musiktheaters. Ein Ende ist nicht abzusehen. Anscheinend haben Wagners mythische Helden, Walküren, Götter, Riesen und Zwerge auch unserer Zeit noch viel zu sagen, und immer wieder Neues. Mit dem Ring werden wir so schnell nicht fertig.
 
Der Autor: Torsten Meiwald, Jahrgang 1967, studierte Germanistik, Musik und Pädagogik und ist heute Leiter einer Privatschule in Norddeutschland. Er ist der Autor der "Randbemerkungen zu Richard Wagners 'Ring des Nibelungen'".


Erzählungen der äußeren Handlung der vier Teilwerke finden Sie hier: